Zwei Physiker, eine Physikerin und ein BWLer aus Münster gründen ein Unternehmen. Kein Startup, wie sie betonen, sondern ein KI-Technologieunternehmen. Ohne Förderprogramm und Fremdkapital. Dafür mit Gewinn gleich im ersten Geschäftsjahr. Kaitos besetzt eine Nische innerhalb des Themenfeldes Künstliche Intelligenz. Mithilfe von Deep Learning und neuronalen Netzen heben die Münsteraner die automatische Bild- und Texterkennung auf ein neues Level.
„Wenn heute von KI gesprochen wird, dann ist häufig die Rede von mehr oder weniger fertigen KI-Modellen, die man bei großen Anbietern wie Amazon oder Google einkauft und für seine Anforderungen anpasst“, erklärt Marcel Windau. Er ist gewissermaßen der Exot unter den Gründern und Gesellschaftern, hat im BWL-Masterstudium die Fachrichtung Sales & Innovationmanagement belegt. Inzwischen kennt sich der 29-Jährige jedoch sehr gut aus im Bereich Künstliche Intelligenz. „Diese fertigen Algorithmen werden hübsch verpackt und können dann auf Basis festgelegter Regeln Entscheidungen treffen oder Ergebnisse vorhersagen. Unsere Software hingegen entwickeln wir selbst in unserem Büro in Münster, das heißt wir können innovative und vor allem individuelle KI-Modelle für unterschiedlichste Kundenbedürfnisse entwickeln und fortan anpassen. Häufig bedarf es nämlich neben mathematischer Fähigkeiten auch einer ordentlichen Portion Kreativität und Genauigkeit, um einzigartige KI-Produkte zu entwickeln. Wir können ohne Übertreibung sagen, dass unsere Bilderkennung nicht nur um ein Vielfaches schneller, sondern auch deutlich fehlerfreier ist, als wenn Menschen dieselbe Arbeit verrichten.“
Bild- und Texterkennung auf einem neuen Level
Zahlen und Fakten aus einem Kundenprojekt, das inzwischen als Produkt auf dem Markt ist, unterstreichen das und erklären gleichzeitig das Prinzip des Deep Learnings: Die Kraftfahrzeug-Überwachungsorganisation freiberuflicher Kfz-Sachverständiger, kurz KÜS, mit Sitz im saarländischen Losheim am See prüft jährlich bis zu vier Millionen Kraft- und Nutzfahrzeuge. Jede dieser Prüfungen begann bislang mit der händischen Eingabe von Kennzeichen und weiteren technischen Daten aus dem Kfz-Schein des Fahrzeugs. Dieser Erfassungsvorgang dauerte in der Regel zwischen zwei und drei Minuten. Die Fehlerquote lag bei ca. 3 Prozent. Die von Kaitos entwickelte und auf Künstlicher Intelligenz basierende Lösung benötigt für dieselbe Arbeit weniger als eine Sekunde – bei einer Fehlerquote von unter 0,5 Prozent. Das bedeutet konkret: Die KÜS spart viele Arbeitsstunden und steigert gleichzeitig die Qualität ihrer Datenerfassung erheblich.
Auch herkömmliche OCR-Text- und Bilderkennungssoftware kann solche Prozesse bereits optimieren. Doch die Erfassung von Kfz-Scheinen ist nicht trivial: Schmutz und Knickstellen machen die automatisierte Datenerfassung schwierig. Oft liegt auch nur eine Fotografie des Dokuments vor, hier geraten herkömmliche OCR-Tools an ihre Grenzen. Kaitos hat es mit seinem Deep-Learning-Ansatz geschafft, selbst Dokumente auszulesen, bei denen Daten teilweise außerhalb der dafür vorgesehenen Datenfelder lagen, wenn also z. B. ein Kfz-Schein schief bedruckt wurde.
Synthetische Kfz-Scheine zu Trainingszwecken
„Das geht nur, wenn man sehr viele Daten hat, mit denen man seine KI trainieren kann“, erklärt Marcel Windau. Mehr Training – mehr Leistung – wie im richtigen Leben. Die Sache hat nur einen Haken: „Sie können gar nicht so viele Trainingsdaten manuell liefern, um das System auf dieses Level zu bringen“, so Windau weiter. „Daher haben wir mit der Open-Source-Software Blender ein Tool entwickelt, mit dem wir auf Knopfdruck unendlich viele synthetische Kfz-Scheine produzieren können.“ Somit ist es Kaitos gelungen, neuronale Netze zu entwickeln, die mittels echter und synthetisch erzeugter Bilder trainiert und anschließend ausgeführt werden. Klingt irgendwie nach Doping, ist aber legal. Die KÜS vermarktet die Software inzwischen über eine eigene Website.
Das Erkennen von Anomalien ist eines der größten Geschäftsfelder für Deep Learning und neuronale Netze. So können beispielsweise riesige Waldflächen anhand von Drohnenaufnahmen auf Baumschäden hin untersucht werden. Für einen der größten deutschen Hersteller von Windkraftanlagen sucht die Software von Kaitos nach kleinsten Rissen und Beschädigungen. Diese frühzeitig zu erkennen und rechtzeitig zu beseitigen, schützt vor großen Gefahren für Menschen in der Umgebung und vor finanziellen Risiken für den Hersteller.
Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz verändert ganze Branchen und Geschäftsmodelle. Daher ist das Projekt mit der KÜS auch eine Ausnahme, über die Marcel Windau offen sprechen kann. Die meisten anderen Projekte unterliegen größter Verschwiegenheit. „Da geht es um patentrechtliche Fragen und technologische Sprünge, die der Wettbewerb möglichst lange nicht erkennen soll“, erklärt der Kaitos-Geschäftsführer.
Medikamente per App bestellen
Ein weiteres Best Practice kann Windau aber noch aus dem Hut zaubern. Es ist gleichzeitig das Premieren-Projekt des Unternehmens. Damit fing alles an. Denn ein Mitgründer stammt aus einer Apothekerfamilie. In der Apotheke kam es immer wieder vor, dass Kunden mit verknitterten, verschmutzten oder beschädigten Rezepten vorstellig wurden. Diese Daten mussten dann mühsam in das Warenwirtschaftssystem überführt werden. Der damals übliche Scanner konnte nur einwandfreie Rezepte erfassen. Die Idee war geboren. Aus einer anfänglichen App zur Rezepterfassung wurde durch Kooperation mit der Apotheken-Rechen-Zentrum GmbH aus Darmstadt schließlich Apojet. Die App ermöglicht es Patienten, Medikamente digital – also ohne persönlich in die Apotheke gehen zu müssen – zu bestellen. Dazu fotografieren sie ihr Rezept und senden es über die App an ihre Stamm-Apotheke. Sämtliche Folgeprozesse laufen anschließend automatisiert ab. Die App informiert die Patienten schließlich über eine Push-Benachrichtigung, wenn alle bestellten Verordnungen abholbereit bzw. lieferbar sind. Daten aus einer Fotografie auslesen und direkt ins Warenwirtschaftssystem einspielen – dieser digitale Prozess kommt bei Apothekern und Verbrauchern gut an.
Wo so viel Wertschöpfung entsteht, da wird auch Geld verdient. Kaitos hat bereits im ersten Geschäftsjahr mehr als 550.000 Euro Umsatz gemacht. Für das kommende Jahr wollen die Gründer aus Münster den Umsatz mindestens verdoppeln. Zwei neue Mitarbeiter wurden bereits eingestellt. „Wir haben aber noch Platz für sechs weitere Arbeitsplätze“, so Marcel Windau. Kaitos hat seine Geschäftsräume in einer ehemaligen Schreinerei in der Dorotheenstraße. Ob der Platz dort auf Dauer ausreicht, steht in den Sternen. Apropos Sterne: Der Firmenname leitet sich tatsächlich von dem 260 Lichtjahre von der Erde entfernten Stern Baten Kaitos (Sternbild Walfisch) ab. „Und je nach Betonung“, so Marcel Windau augenzwinkernd, „kommt ja auch K(a)I darin vor.“ Ein bisschen nach den Sternen greifen wollen Windau und sein Team zudem: „Mein Traum ist es, in fünf Jahren eine Art KI-Campus hier in Münster zu haben. Ein KI-Forschungszentrum, angesiedelt bei Kaitos.“
Spätestens jetzt wird klar, warum die Kaitos-Gründer ihr Unternehmen nicht als Start-up verstanden wissen wollen. Das klingt tatsächlich eher nach den Ambitionen eines KI-Technologieunternehmens.