Wer mit einer Versicherung zu tun hat, braucht vor allem eines: Geduld. Der Digitalisierungsspezialist Eucon hilft Versicherern, schneller zu werden. Angefangen haben die Gründer in einer Garage mit einer CD-ROM.
Ein Blechschaden ist ärgerlich. Aber noch ärgerlicher ist für Versicherungskunden, wenn sie danach wochenlang auf ihr Geld warten müssen. Im Schnitt vergeht ein knapper Monat, bis Versicherer eine Schadenmeldung bearbeitet haben. Gleichzeitig sehen die Kunden, dass Schuhe oder Bücher, die sie im Internet bestellen, oft schon am Tag darauf geliefert werden. Natürlich lässt sich ein Buch schneller verschicken, als ein Schaden geprüft ist. Doch dass das eine Verzögerung von mehreren Wochen rechtfertigt, mögen viele so nicht mehr hinnehmen. Das Internet hat die Erwartungen verschoben.
„Die Kunden wollen heute Service-Prozesse erleben, wie sie sie bereits von Amazon oder Zalando gewohnt sind“, sagt Barbara Greissinger (Foto). Sie ist Kommunikationschefin der Eucon-Gruppe, einem digitalen Mittelständler aus Münster, der unter anderem Versicherern dabei hilft, den Schritt aus der analogen in die digitale Welt zu machen und den veränderten Erwartungen von Kunden gerecht zu werden.
Vor allem für Versicherer ist das ein großer Schritt, denn es sind zumeist riesige Unternehmen, in denen nicht nur Bearbeitungsprozesse viel Zeit brauchen, sondern auch Veränderungen. Doch viel Zeit bleibt den Versicherungen nicht, denn mit der Digitalisierung ist die Schwelle kleiner geworden, die neue Unternehmen überwinden müssen, um auf dem Versicherungsmarkt tätig zu werden. Es gibt junge Anbieter wie Lemonade, die zeigen, dass Versicherungen nicht kompliziert sein müssen, dass man eine Sprache spricht, die Kunden verstehen – und vor allem: dass alles sehr viel schneller gehen kann, wenn Versicherer den Sprung von der Zettelwirtschaft ins digitale Zeitalter schaffen.
Das müsste doch einfacher gehen
Die Eucon-Gründer Marcel und Maurice Oosenbrugh haben das schon sehr früh erkannt. Mit Versicherungen hatten sie anfangs nichts zu tun. Ihr Vater war Exportleiter bei einem Autoteilehersteller. Autos waren zu Hause immer ein Thema. Der Vater gab die Leidenschaft an seine Söhne weiter. Und die begannen, sich nicht nur für Autos zu interessieren, sondern auch für das Geschäftliche. Sie verstanden schnell, wie der Markt funktioniert, wie Autoteile gehandelt werden, und sie hatten einen Gedanken, der am Anfang vieler Unternehmensgründungen steht: Das müsste doch alles auch einfacher gehen.
Wenn eine Autowerkstatt zu dieser Zeit ein Ersatzteil brauchte, musste jemand in dicken Katalogen blättern oder sich am Telefon durchfragen. Das war sehr aufwendig und raubte viel Zeit. Marcel und Maurice Oosenbrugh überlegten sich eine Lösung. Sie stellten einen Katalog zusammen, der Werkstätten diese Arbeit ersparte, und gaben ihn als CD-ROM heraus.
Schon vier Jahre später verwendeten 12.500 Werkstätten das Eucon-Informationssystem. Aus dem Katalog wurde eine Datenplattform, auf der Hersteller und Händler umfassende Daten des globalen Kfz-Ersatzteilmarktes finden. Heute ist das weiterentwickelte System Branchenstandard und laut Eucon die weltweit führende Autoteilesuchmaschine.
Das muss man wissen, um zu verstehen, warum Eucon inzwischen auch für Versicherer arbeitet. Auf den ersten Blick hat dieses Geschäft nicht viel zu tun mit dem Markt für Autoersatzteile, auf den zweiten allerdings schon. Versicherer müssen zum Beispiel einschätzen können, ob die bei einem Schadenfall eingereichten Reparaturkosten angemessen sind. Dazu müssen sie auch die Preise von Ersatzteilen kennen.
Dieser Zusammenhang war Maurice Oosenbrugh aufgefallen. Aus seiner Beobachtung entwickelte er einen neuen Geschäftszweig. Eucon stellte den Versicherern jedoch nicht einfach nur Daten zur Verfügung. Das Unternehmen nutzte sein Know-how, um das Versicherungsgeschäft in die digitale Welt zu übertragen und ist nach eigenen Angaben heute der führende Digitalisierungsdienstleister für Versicherer.
Eine einfache Formel
Wenn man Barbara Greissinger fragt, was Eucon genau macht, sagt sie: „Wir automatisieren Geschäftsprozesse.“ Auf diese einfache Formel kann man die komplexe Aufgabe bringen. Für die Versicherer bedeutet das: Was der Computer übernehmen kann, übernimmt auch der Computer. Der Mensch greift nur dann ein, wenn die Software nicht weiterkommt.
Was Eucon heute macht, hat sich langsam entwickelt: Anfangs prüfte man für die Versicherer Belege – Kostenvoranschläge, Gutachten oder Rechnungen. Das nahm den Sachbearbeitern viel Arbeit ab, denn sie mussten einschätzen, ob die jeweils angegebenen Kosten in Höhe und Umfang gerechtfertigt waren. Inzwischen kümmert Eucon sich um den gesamten Schadenprozess – von dem Moment, in dem der Kunde den Schaden digital übermittelt, bis zur Freigabe der Zahlung.
Es beginnt damit, dass der Kunde den Schaden per App meldet (Smart Claims). So erspart er sich viel Papierkram. Außerdem kann er vor Ort Fotos oder Videos vom Schaden machen und das Material an die Meldung anhängen. Der Versicherer muss nicht erst Papierstapel sortieren. Er bekommt die Daten so, wie er sie braucht. So liegt die Meldung innerhalb weniger Minuten beim Versicherer.
Während früher Tage vergingen, bis der Antrag auf dem richtigen Schreibtisch ankam und bearbeitet werden konnte, kümmert sich heute im ersten Schritt eine Software um die Meldung (Smart Inbox). Mithilfe von künstlicher Intelligenz wertet sie die Dokumente aus, klassifiziert sie und entnimmt die relevanten Informationen.
Danach schätzt das Programm ab, wiederum mithilfe von künstlicher Intelligenz, ob ein Mensch den Fall prüfen muss (Claims Prediction). Bis zu 45 Prozent aller Fälle kann die Software ohne menschliche Hilfe bearbeiten. In diesen Fällen erhält der Versicherte innerhalb von wenigen Stunden eine Rückmeldung.
Kommt die Software alleine nicht weiter, geht der Fall an die Experten, die Eucon beschäftigt (Claims Proof). Das sind Kfz-Meister oder Fachleute auf anderen Gebieten. Eucon übernimmt mittlerweile nicht mehr nur Kfz-Versicherungsfälle, sondern auch die Bearbeitung von Sachschäden. Den aktuellen Status ihres Auftrags können die Kunden online im Blick behalten, wie sie das von Paketdienstleistern kennen (Service Connector).
250 Kunden in 80 Ländern
Die Liste der Kunden ist ein „Who is Who“ der deutschen Automobil-, Versicherungs- und Immobilienbranche. Und das Geschäft wächst schnell. Aus dem vor über 20 Jahren in einer ostwestfälischen Garage gegründeten Start-up ist ein internationales Unternehmen geworden. Mit rund 400 Mitarbeitern betreut Eucon heute 250 Kunden in mehr als 80 Ländern von globalen Niederlassungen in Europa, den USA, Lateinamerika und dem asiatisch-pazifischen Raum. Vor fünf Jahren hat Eucon am südlichen Rand von Münster eine moderne Zentrale bezogen, in der Besucher gleich am Eingang in einer Vitrine die Preise sehen, die das Unternehmen in den vergangenen Jahren bekommen hat: Digital-Awards, Auszeichnungen für Innovationen, Pokale und Urkunden. Erst im Dezember ist das Unternehmen mit dem Innovationspreis Münsterland in der Kategorie „Digitale Geschäftsmodelle“ ausgezeichnet worden.
Und wie auch schon einmal hat sich das Geschäft weiterentwickelt. Das ist ein Charakteristikum der Digitalisierung: Wer eine Lösung für ein Problem entwickelt, kann mit ihr auch andere Probleme lösen. So haben sich aus einem Produkt weitere ergeben. Die Algorithmen, die mithilfe von künstlicher Intelligenz Dokumente analysieren und auswerten können, sind auch in der Lage, Firmen in anderen Branchen die Arbeit zu erleichtern, zum Beispiel in der Immobilienwirtschaft.
Immobiliengesellschaften haben es mit einer Flut von Dokumenten zu tun. Sie müssen Rechnungen verarbeiten, Kostenvoranschläge und Mietverträge. „Diese Aufgabe nehmen wir den Unternehmen ab“, sagt Barbara Greissinger. Eucon übernimmt das gesamte Dokumenten-Management. Die auf Basis von künstlicher Intelligenz funktionierende Lösung (Smart Invoice) liest, erkennt und klassifiziert die Rechnungen und spielt sie möglichst ohne menschliches Zutun kontierungsfertig in die Unternehmenssoftware zurück. Das alles lässt sich nicht eins zu eins von der Versicherungsbranche auf die Immobilienwirtschaft übertragen. Eine andere Branche stellt andere Anforderungen und bringt andere Probleme mit sich. Es braucht wieder neue Lösungen. Aber vielleicht entwickelt sich aus ihnen ein neuer Geschäftszweig.