Agilität ein alter Hut? Jein!

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Können Sie es auch nicht mehr hören? Agilität? Ja? Dann sollten Sie weiterlesen! Kein Wort spaltet Unternehmen derzeit wie jenes kleine Wörtchen: Agil! Genervt schreiben Autoren Artikel über den Unsinn von „ädscheil” und Unternehmen suchen bereits nach alternativen Formulierungen für Agilität, weil man allein das Wort schon den Mitarbeitern nicht mehr zumuten möchte. Dabei hat das „Age of Agile”, wie Autor Stephen Denning die vierte Phase der industriellen Revolution oder den Wandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft betitelt, gerade erst angefangen. Auch Stefan Kühl, Professor für Organisationssoziologie an der Uni Bielefeld, bezeichnet das Streben hin zu agilen Unternehmensstrukturen als „Kalten Kaffee“ und weist lapidar darauf hin, dass der Zukunftsforscher Alvin Toffler schon 1970 reklamierte, dass aufgrund der Dynamik in der Umwelt die flexible Firma notwendig sei. Passiert ist allerdings seitdem recht wenig in den meisten Unternehmen. Noch immer gibt es die alten Funktionsdiagramme, komplizierte Zuständigkeits- und Prozessbeschreibungen, Expertendenken, Abteilungssilos, Softwareentwicklung nach dem Wasserfallprinzip und klar zugewiesene Entscheidungs- und Hierarchieebenen.

Agilität - Symbolbild Teamgeist im Büro
iStock.com/scyther5

Wie anders dagegen agile Unternehmen! Die denken nicht mehr über das Wort nach, die machen das einfach! Mit einer Kollegin besuchte ich neulich das Unternehmen Sipgate in Düsseldorf. Sipgate ist 15 Jahre alt und betreut über 15.000 Firmenkunden in Voice-Over-IP-Telefonie. Mittlerweile arbeiten 150 Mitarbeiter dort, lean, agil und mit Scrum. Wir befinden uns in einem alten Fabrikgebäude in der Nähe des Düsseldorfer Medienhafens: helle, offene Team-Räume, viel Glas, Besprechungstische, stylishe Möbel, kleine Teams, viele Kommunikationsmeetings (Dailys, Weeklys, Ergebnispräsentationen) und überall bunte Post-its an den Wänden. Man ist stolz auf den eigenen Koch, die kostenlose Getränkebar und eine hip gestaltete Kantine. Keine Manager, keine Hierarchien, keine Gehaltsverhandlungen, keine Überstunden, so der Text auf der Homepage. Klingt wie eine Utopie? Hier wird sie gelebt! Wir gucken dabei zu, wie lockere Team-Diskussionen mit Füßen auf dem Tisch geführt werden. Wir dürfen in den Raum, in dem die oftmals sehr persönlichen Team-Retrospektiven nach einem Sprint abgehalten werden. Wir lesen auf Zettelchen die Themen der sogenannten Open Fridays, ein freies, vierzehntägig stattfindendes Format, bei dem die Mitarbeiter Themen selber vorstellen und erarbeiten dürfen. Es gibt acht Bürohunde und eine Kinderbetreuung. Geführt werden wir von dem PR-Manager, einem Typen um die fünfzig, mit Rauschebart, Käppi und Skateboardklamotten, der entspannter nicht wirken könnte. „Vertrauen“ und „Team” sind seine beiden Hauptthemen. Vertrauen in die Leistung der Mitarbeiter, Vertrauen in die Teams, Vertrauen in das Gute im Menschen. Insgesamt wirkt dieses agile „New Work” entschleunigt, entspannt, locker und familiär. Home Office war bis vor ein paar Monaten verboten. Denn, so paradox das klingen mag, gerade die zwischenmenschliche Kommunikation spielt eine entscheidende Rolle im digitalen Zeitalter.

Agilität heißt eben auch, präsent zu sein, achtsam und in Resonanz zu sein, mit sich, seinen Mitmenschen, seiner Tätigkeit, dem Team, seiner Work-Life-Balance, seinem Leben. Spätestens hier wird Agilität zum wichtigen Asset für Unternehmen. Dann nämlich, wenn es um das Anwerben junger Fachkräfte geht. Die haben oftmals keine Lust mehr auf 08/15-Büros und 08/15-Tätigkeiten, auf Hierarchien, Abhängigkeiten, Business-as-usual und die kulturellen Büro- und Dresscodes der alten Geschäftswelt. Sie wollen im Einklang sein mit sich, ihrem Privatleben und ihrer Arbeit und zum Beispiel auch dort Skateboardsachen tragen dürfen. Das Motto von Sipgate: „Selbstverantwortung, Feedback, Lernen, Freiheit und Spaß – das ist es, was uns glücklich und gleichzeitig besser macht.” Gibt es ein größeres deutsches Unternehmen, das Freiheit und Spaß, ja sogar das Glück seiner Mitarbeiter als Nutzen in seinen Leitsätzen verankert hat?

Agilität - Symbolbild Mann auf Skateboard
iStock.com/stockstudioX

Aber warum auch verändern, wenn’s doch läuft? Viele Unternehmen erwirtschafteten 2018 ihr bestes Geschäftsergebnis. Warum zum Teufel also agil werden? Der Need-for-Change fehlt. Noch gibt es genügend Kunden, die Autos kaufen, die Zeitungen lesen, normales Fernsehprogramm gucken, bei ihrer Versicherungsagentur eine Police abschließen und Lotto in ihrer Annahmestelle spielen. Noch funktionieren die taylorschen Gesetze des Massenmarktes – na ja, zumindest so halbwegs. Blickt man genauer hin, offenbaren diese mehr und mehr ihre Schwachstellen und ihre Fehleranfälligkeit. Vor allem, wenn sich Unternehmen der Kundenzentriertheit verschrieben haben. Und wer hätte das nicht? Customer-Centricity ist gewissermaßen das Must-have jeder Unternehmensstrategie. Man will vom Kunden aus denken, so der Plan. Dieser wird mantraartig vor sich hin gebetet, in der Praxis denkt man aber weiterhin fröhlich vom Reißbrett aus. Haben wir immer so gemacht! Schließlich weiß man aus langjähriger Erfahrung, was für den Kunden am besten ist! Wozu haben wir denn unsere Experten? Hat früher auch immer geklappt! Klappt aber irgendwie nicht mehr so richtig.

Agilität ist nichts anderes als maximale und maximal bewegliche Kundenzentriertheit. Im Manifest der agilen Softwareentwicklung von 2001 nimmt der Kunde die zentrale Rolle ein. Das erste agile Prinzip lautet: „Unsere höchste Priorität ist es, den Kunden durch frühe und kontinuierliche Auslieferung wertvoller Software zufriedenzustellen.” Im digitalen Zeitalter ist diese user- oder kundenzentrierte Ausrichtung essenziell, weil der Kunde sonst einfach weg ist! Das für ihn bessere Angebot ist nur einen Klick entfernt, die Konkurrenz groß. Agile Methoden helfen, die ausgerufene Kundenzentriertheit in die Praxis umzusetzen und zu leben. Nicht nur in der Softwareentwicklung, aus der der agile Ansatz ursprünglich stammt, sondern als holistischer Ansatz, der schon bei der Entwicklung eines neuen Produktes oder Services, ja bereits in der unternehmerischen Strategie, beginnt.

Agilität heißt beispielsweise konsequentes Denken in sogenannten Userstories („Was könnte Persona Beate an der Stelle stören?”) und maximale Empathie für den Kunden („Warum will Beate da nicht klicken? Was könnte sie hindern? Warum nimmt Beate das Angebot nicht an?”). Das heißt ständige „End-To-End”-User-Tests von Produktdesigns, Prototypen und Services. Iteration und Adaption, immer und immer wieder, und immer mit dem Kunden. Versuchen Sie diese iterativen Entwicklungsprozesse mal mit den klassischen Hierarchien: Abstimmungsrunden, Protokolle, Anträge und Formulare. Haben Sie schon mal gemessen, wie lange Prozesse bei Ihnen im Unternehmen dauern, weil es nahezu unmöglich ist, alle zuständigen Vorgesetzten zeitgleich zusammenzubekommen?

Bei WestLotto haben wir als Experiment eine selbstorganisierte und autonome Arbeitsgruppe zum Thema „New Work” gebildet. Die sieben Mitarbeiter aus sehr unterschiedlichen Abteilungen waren aus verschiedenen Gründen intrinsisch, also aus sich selbst heraus, für das Thema motiviert. Es gab keine Order vom Vorgesetzten, keine Anleitung, keine Aufgabe, einfach nur das Erkennen eines aus unserer Sicht wichtigen Themas für das Unternehmen. Wir trafen uns sieben Wochen lang, einmal in der Woche, immer eine Viertelstunde und im Stehen. Mitten im Foyer und immer mit maximalem Fokus auf Ergebnisse. In Anlehnung an die „Work-Out-Loud”-Methode schrieben wir unsere Ideen und Ansätze auf bunte Post-its, die wir auf einem Whiteboard sortierten und strukturierten. Nach 15 Minuten musste ein Ergebnis her, wir gingen in die Breite, fassten wieder zusammen und fokussierten uns auf die Dinge, die uns besonders ins Auge stachen und bei denen wir rasch Commitment erzielten. Für die Einhaltung der Zeit sorgte eine Timeboxing-Uhr. Die Ergebnisse, die wir in dieser kurzen Zeit mit maximaler Freiheit, Offenheit, Ehrlichkeit und Autonomie in unserem Tun inhaltlich erarbeiteten, waren für alle erstaunlich. „Besser als jeder Berater”, sagte eine Kollegin. Das Tempo hatte sich im Vergleich zu den normalen Strukturen und Abstimmungen schätzungsweise verfünffacht.

Agilität - Symbolbild Schildkröte mit Raketenantrieb
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Die Umsetzung dieser Ergebnisse in den bestehenden Strukturen wird noch etwas dauern, aber auch hier suchen wir neue Wege, Dinge zu beschleunigen. Wir fokussieren uns beispielsweise auf pragmatische, weil naheliegende Quick Wins. Weil die Teammitglieder nebenher viel zu tun haben, agieren wir in der Gruppe nach dem Pareto-Prinzip: Kleiner Einsatz, möglichst große Wirkung, auch bekannt als die 80/20-Formel. „Simplicity – the art of maximizing the amount of work not done – is essential”, mein persönliches Lieblingsprinzip des agilen Manifestes. Weg mit unwichtigen Besprechungen, Sonderlocken, Firlefanz! Fokus auf das Wesentliche, das Machbare, das rasch und pragmatisch Umsetzbare. Auch das ist nicht neu. Pareto entwickelte seine These bereits 1906. Und dass zu viel Arbeit und zu viel Aktionismus auf Dauer zu Unproduktivität führen, zeigten Robert Yerkes und John D. Dodson schon 1908 in ihrer Yerkes-Dodson-Kurve. Kennen Sie „Die acht Regeln für den totalen Stillstand in Unternehmen” von Professor Peter Kruse? Stehen seit 2008 im Netz und sind in vielen Unternehmen aktueller denn je.

Also alles ein alter Hut? Nein! Es ist schließlich nicht nur die Digitalisierung, die die Veränderungsprozesse in Unternehmen bewirkt. Im Zeitalter gesättigter und enger globaler Märkte mit einer hohen Dynamik und Hyperwettbewerb heißt es für alle Unternehmen: Raus aus der trägen Taylor-Wanne! Raus aus dem Zeitalter der Massenmärkte, raus aus dem alten Verständnis von Wirtschaft, rein in die Netzwerkökonomie, rein in experimentelle Wirtschaftsforschung und Verhaltensökonomie, weg vom homo oeconomicus hin zum homo heterogenicus, weg vom Ego- und Konkurrenzdenken, hin zum Denken in Kooperation und Wertschätzung. Denn auch das ist Agilität: Wirtschaftswissenschaft, Philosophie, Anthropologie, Soziologie, Ethik.

Wir spüren es alle, das Leben in der digitalen und globalen Welt ist komplex, fragil und ambivalent geworden. Dafür hat sich das englische Akronym VUCA herausgebildet, das die schwierigen unternehmerischen Rahmenbedingungen beschreibt. Diese sind unbeständig (volatility), unsicher (uncertainty), komplex (complexity) und mehrdeutig (ambiguity). Um schnell auf Veränderungen reagieren zu können, sollten Unternehmen agil im Sinne von beweglich sein. Ob und wie man dieses umsetzt, ob mit Scrum, Kanban, Lean Thinking, Scaled Agile Framework und so weiter, ist jedem Unternehmen überlassen. Die Gesellschaft ändert sich und Kunden und Mitarbeiter haben veränderte Anforderungen an Unternehmen. Das las sich schon im Cluetrain-Manifest aus dem Jahr 2000 eindrucksvoll und umwälzend.

Man kann dies ablehnen, ignorieren, aussitzen, oder wie die Pinguine in John Kotters Change-Klassiker „Das Pinguin-Prinzip” Wahrheiten erkennen, der Veränderung mutig entgegensehen und sie aktiv gestalten. Dazu gilt es auch, das Mindset der Mitarbeiter zu ändern. Auch hier gibt es gute Ansätze und Methoden und Sie werden feststellen, wie rasch das Netzwerk der „Änderungswilligen” in Ihrem Unternehmen wächst, wenn Sie die neue Art zu denken ermöglichen, fordern und fördern, wenn Sie Verantwortung abgeben und vom „Command & Control”-Führungsprinzip zum Modell des „Servant Leadership” wechseln.

Agile Methoden stellen dabei nur ein Hilfsmittel von vielen dar, den Kundenfokus konsequent zu denken und umzusetzen. Empathie für den Kunden, Agieren in eigenverantwortlichen und selbstorganisierten Teams, Vernetzung, Umdenken, ein positives Mitarbeiterbild, Offenheit, Vertrauen, Mut und ein „Mindset of growth” sind ebenfalls Voraussetzungen für Agilität. „Don’t do agile, be agile”, so der Leitsatz. Agil sein ohne agil (vor-) zu leben, geht nicht. Es ist ein umfassendes Thema, ein „Mindset”, wie Autor Torsten Scheller schreibt. Das „Age of Agile” stellt das bisherige Wirtschaftsdenken und Organisationen so ziemlich auf den Kopf, es geht auch nicht mehr weg. Im Gegenteil, es hat gerade erst begonnen und es ist in seiner Dimension und Wirkung keineswegs ein alter Hut, sondern neu und revolutionär.

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Ute Hamelmann (Jg. 1975) gründete schon 1996, neben ihrem Studium, ihre erste eigene Internetagentur. Sie arbeitete für die Zeitung, verschiedene Medien, zeichnete Cartoons und bloggte unter dem Namen „Schnutinger“ als eine der ersten Frauen in Deutschland. Hauptberuflich arbeitet sie seit 2001 in verschiedenen Positionen bei WestLotto in Münster. Jahrelang bekam sie dort von Kolleginnen und Kollegen zu hören, sie sei falsch im Unternehmen, weil viel zu kreativ. Doch dann lernte sie als Innovationsmanagerin das umfassende Thema Agilität kennen und merkte, nicht sie war falsch, die Strukturen und das Denken im Unternehmen waren es, zumindest im Hinblick auf ihre gelernte digitale Welt und Arbeitsweise. Gemeinsam mit dem Change-Manager trägt sie nun ein Umdenken, den kundenzentrierten Blick, Prototypen, User-Tests und vieles mehr ins Unternehmen.

1 KOMMENTAR

  1. Sehr interessanter Artikel. Danke.

    Schauen Sie doch auch mal bei der Telekom vorbei ;-). Ein Akquisegespräch gestern, wieder mal zum Gruseln. Ich sage dem Kundenberater am Telefon, worum geht es genau, weil ich keine Zeit für lange Werbeansagen habe. Er sagt , es gäbe VIELE Themen. Schon schlecht. Er hört mein Bedürfnis nicht und spult das Gelernte ab.
    Ich:“ lassen Sie uns kurz festmachen was die wichtigsten Themen sind, ich habe wirklich wenig Zeit, „(ich fand es schon gut, dass ich überhaupt zuhörte) und er sagt, er habe als erstes ein Tablet anzubieten. Ich antworte, dass ich keines benötige, hier könnten wir also zum nächsten Thema übergehen. Das nächste Thema sei „Car Connect“. Ich sage ihm, das bräuchte ich ebenfalls nicht. Dann meint er zweimal “ Wissen Sie denn überhaupt, was das ist?“ ????? Sorry, danach war die Bereitschaft zum Gespräch vorbei. Ich verstehe nicht, warum hier nicht agil gearbeitet wird. Wie lange nervt schon der unsensible Telekom-Vertrieb….

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