Frauenmangel in der IT: Jetzt sprechen die Vorbilder

0
650

In IT-Berufen sind Frauen noch immer selten. Es gibt viele abschreckende Klischees, aber nur wenige weibliche Vorbilder. Die neue Online-Plattform „IT for Girls“ setzt genau da an, um das Missverhältnis zu ändern.

Warum Frauen sich so selten für einen Beruf in der IT entscheiden, kann Katrin Bergener gut nachvollziehen. Auch sie selbst wäre fast ganz woanders gelandet. „Als junges Mädchen wäre ich nie auf die Idee gekommen, Informatik zu studieren“, sagt sie. Nach dem Abitur entschied sie sich zunächst für Allgemeine Sprachwissenschaften. Erst mitten im Studium fand sie heraus, dass sie sich für Computerlinguistik interessiert. Nach ihrem Abschluss im Jahr 2006 wechselte sie das Fach, promovierte am Institut für Wirtschaftsinformatik, und dort leitet sie heute zusammen mit einer Kollegin das Projekt „Digital me“, das sich genau mit diesem Problem beschäftigt, mit der Frage: Wie bringt man junge Frauen dazu, sich für einen IT-Beruf zu begeistern?

Kathrin Bergener
Katrin Bergener. Foto: Uni Münster

Das Team besteht aus Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachrichtungen, aus Wirtschaftsinformatikern, Physikern und Soziologen. Drei Jahre lang haben sie zusammen an einer Online-Plattform gearbeitet, die das Interesse von jungen Frauen auf einen IT-Beruf lenken soll. Das Geld kam vom Bundesbildungsministerium. Die Unternehmensberatung viadee hat die Software programmiert. Das Ergebnis ist seit Anfang Juli auf der Seite „IT for Girls“ zu finden.

Wer die Website öffnet, auf den wartet bereits ein Avatar – ein junges Mädchen mit blauen Haaren und Rucksack. „Hey, ich bin Anna“ steht für einen Moment auf dem Bildschirm, dann verschwindet die Schrift, und es geht auch schon los. Anna läuft über eine Straße, die sie zu verschiedenen Stationen führt. Kleine Buden, Werkstätten, Garagen und Bürotürme mit Schriftzügen wie „Vermarkten & Vertrieb“, „IT-Security“ oder „Entwicklung & Design“. Das sind die Themen, um die es hier geht.

Screenshot digital me

Kampf gegen gängige Klischees

Der Avatar Anna steht vor dem gleichen Problem wie die jungen Frauen, für die das Angebot gedacht ist: Mädchen zwischen 15 und 17 Jahren, die sich die Frage stellen: Was will ich später einmal werden? Die Stationen sollen dabei helfen, eine Antwort zu finden. Und das ist vor allem ein Kampf gegen die gängigen Klischees.

Wenn man junge Frauen nach ihren Berufswünschen fragt, sind die Ergebnisse in der Regel erwartbar. Mädchen haben in der Tendenz eine Vorliebe für soziale Berufe. Sie möchten Tierärztin, Lehrerin oder Erzieherin werden. Welche Rolle die Biologie dabei spielt, kann die Forschung nicht klar beantworten. Ganz sicher sagen lässt sich aber, dass es Faktoren gibt, die diese Tendenz verstärken. Oft sind das Vorurteile.

Mädchen hören schon in der Schule, Technik sei eher etwas für Jungs. Doch das stimmt so gar nicht. An den Fähigkeiten liegt es jedenfalls nicht. Das zeigen Untersuchungen immer wieder. In einigen Tests schneiden Mädchen in naturwissenschaftlichen Fächern sogar besser ab als männliche Mitschüler, in anderen sind ihre Ergebnisse mindestens gleichwertig.

Eines der größten Probleme aber ist: In IT-Berufen fehlt es an weiblichen Vorbildern. So gut wie jedes Mädchen kennt Frauen, die als Ärztin, Lehrerin oder Erzieherin arbeiten. Aber eine weibliche Systemadministratorin? Oder eine Frau, die für ihr Leben gern programmiert?

Videobeiträge zeigen Vorbilder

Natürlich gibt es sie. Doch sie sind selten. Man muss sie finden und sichtbar machen. Das übernimmt hier die Plattform. In kurzen Video-Beiträgen kommen Frauen zu Wort, die sich nicht von Vorurteilen haben leiten lassen.

Zum Beispiel die Ärztin Verena Brodbeck, die mittlerweile als Programmiererin für ein Unternehmen arbeitet, das eine Buchhaltungssoftware herstellt, und die sagt: „Klasse an dem Job ist (…), dass man sehr frei ist, wo man arbeitet, wann man arbeitet. Ich könnte theoretisch auf der ganzen Welt arbeiten. Und ich kann auch in jeder Branche arbeiten.“

Oder die IT-Managerinnen Anke Hoffmann und Christa Frings. Sie sind beide 54 Jahre alt, haben beide Kinder, und beide arbeiten seit vielen Jahren für den Autohersteller Ford. Das Video zeigt sie in ihrem Arbeitsumfeld, am Schreibtisch, im Gespräch oder bei einer Präsentation. Man müsste lange suchen, um hier eines der üblichen Klischees zu entdecken.

„IT ist ein Beruf, in dem ein Mangel an Arbeitskräften herrscht, und dadurch werden insgesamt große Gehälter bezahlt, und es werden Kompromisse gemacht. Das heißt, gerade für Frauen bietet sich die Möglichkeit, in Teilzeit zu arbeiten und flexible Arbeitszeiten zu haben, von zu Hause zu arbeiten“,

sagt Anke Hoffmann. Das klingt nach beneidenswerten Bedingungen für Frauen, die sich nicht irgendwann zwischen Karriere und Familie entscheiden möchten, sondern gern beides hätten. Es muss sich nur noch herumsprechen, dass die IT-Branche solche Berufe bietet. Noch hat es das nicht. „In der Wirtschaftsinformatik haben wir nach wie vor eine sehr geringe Frauenquote, vielleicht 10 oder 15 Prozent“, sagt Katrin Bergener.

55 Millionen für einen Aktionsplan

Dabei bemüht die Uni Münster sich schon seit Jahren gezielt um Studentinnen in den sogenannten MINT-Fächern Mathe, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Vor sieben Jahren hat sie das Mexlab eingerichtet – ein Zentrum, das Workshops und Projekte anbietet, die speziell junge Mädchen an diese Fächer heranführen sollen. Verantwortlich für das Mexlab ist Inga Zeisberg, eine Physikerin, die sich schon in ihrer Doktorarbeit mit der Frage beschäftigt hat, wie man junge Menschen, vor allem Frauen, für MINT-Fächer begeistern kann. Inga Zeisberg ist die Kollegin, mit der Katrin Bergener das Projekt „Digital me“ gemeinsam leitet.

Auch die Bundesregierung unternimmt viel, um das Missverhältnis zu beseitigen. Bis 2022 will sie insgesamt 55 Millionen bereitstellen, um den sogenannten Aktionsplan MINT zu finanzieren, der 10- bis 16-jährige Schüler/innen, besonders die Mädchen, an naturwissenschaftliche und technische Fächer heranführen soll. Daneben gibt es den MINT-Pakt, in dem sich 300 Partner engagieren, um junge Frauen auf MINT-Berufe aufmerksam zu machen. Auch auf Landesebene gibt es viele Initiativen.

Doch große Veränderungen brauchen Zeit. Nach Zahlen der Bundesregierung wird noch immer nur etwas mehr als jeder zehnte Ausbildungsvertrag in MINT-Berufen mit einem Mädchen abgeschlossen. Nicht einmal ein Fünftel aller IT-Studenten sind weiblich. Das bedeutet: Bis die IT-Abteilungen in den Unternehmen die Veränderungen spüren, wird es noch etwas dauern.

Oft bewerben sich nur Männer

Im Moment sieht es in vielen Unternehmen so aus wie in der Unternehmensberatung viadee, die das Projekt „IT for Girls“ für die Uni Münster umgesetzt hat. Fragt man Łukasz Lis, den Leiter der unternehmenseigenen Entwicklungsabteilung „Software-Schmiede“, nach der Frauen-Männer-Quote im Unternehmen, überlegt er einen Moment und sagt dann: „Könnte definitiv besser sein.“
In seiner Abteilung arbeiten 13 Männer und eine Frau. Im gesamten Unternehmen, das in Köln und Münster über 130 Mitarbeiter hat, sei die Quote etwas besser, aber nicht sehr viel. Den Firmen kann man das nicht vorwerfen. Schreiben sie Stellen aus, bewerben sich oft nur Männer.

Kevin Haase und Łukasz Lis
Kevin Haase (li.) und Łukasz Lis von der viadee Unternehmensberatung.

Wenn die Hälfte der Bevölkerung sich nicht für einen Berufszweig interessiert, in dem viele Kräfte gebraucht werden, führt das früher oder später zu Problemen. In der IT-Branche ist das bereits geschehen. Ende vergangenen Jahres meldete der Branchenverband Bitkom 82.000 offene IT-Stellen in Deutschland. Männer allein werden diesen Engpass nicht beheben können.

Doch das wäre auch gar nicht wünschenswert, denn innerhalb der Unternehmen hat die Männer-Dominanz wiederum Folgen, die problematisch sein können. Frauen haben eine Perspektive, die sich von der männlichen unterscheidet.

Das hat sich auch während des Projekts „IT for Girls“ gezeigt. Bei viadee waren vier Männer an der Entwicklung beteiligt. Łukasz Lis und Kevin Haase waren zwei davon. Die Projektleitung an der Uni Münster besteht mit Katrin Bergener und Inga Zeisberg aus zwei Frauen. Dass zwischen ihnen und der Zielgruppe wiederum knapp 20 Lebensjahre liegen, verstärkt den Effekt, denn die Perspektive dieser Frauen sieht noch einmal anders aus. Das zeigte sich schon bei den Entwürfen für den Avatar Anna.

Für Łukasz Lis war neu, dass die Optik eine so große Bedeutung hatte. „Wir haben viel über Frisuren oder Farben diskutiert. Das sind Dinge, über die ich sonst nie mit meinen Kunden spreche“, sagt er. Auch Katrin Bergener hatte zunächst ganz andere Vorstellungen. „Wenn es nach uns gegangen wäre, hätte die Figur Anna ganz anders ausgesehen“, sagt Katrin Bergener. Aber das Projektteam verließ sich auf die Einschätzungen der Schülerinnen, die sie befragt hatten – wie auch in anderen Punkten. Eigentlich hätte die ganze Plattform viel verspielter ausfallen sollen. Doch die Schülerinnen fanden: Wenn es um unsere berufliche Zukunft geht, hätten wir es gern etwas seriöser.

Die wichtigste Frage

Einige Spiele und ein Quiz sind dennoch geblieben. Sie sollen die Inhalte erlebbar machen. Dazu gibt es viele Informationen zu Berufsfeldern, einen Berufskompass, der Fragen stellt und dann eine berufliche Richtung vorschlägt, und es gibt handliche Erklärungen zu Schlagworten, die in der IT eine Rolle spielen: Cloud Computing, IT-Security oder Autonomes Fahren.

Die wichtigste Frage stellt sich allerdings erst jetzt, zum Ende des Projekts: Kommt das Ergebnis bei den jungen Frauen auch an?
Im Moment versucht das Team, die Plattform bekannt zu machen, mit Postkarten, Print-Material, das man bestellen kann, mit einem Instagram-Account und mit einer Facebook-Seite. Auch dabei zeigten sich die unterschiedlichen Perspektiven. Bei Facebook zum Beispiel, das war schnell klar, findet man heute noch weniger Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren als junge Frauen in der Wirtschaftsinformatik.

Katrin Bergener rechnet nicht damit, dass die Plattform große Massen erreichen wird. Wichtiger wäre ihr, dass die Inhalte bei denen, die sie finden, auch wirken – und im besten Fall etwas bewirken:

„Für mich wäre es ein Erfolg, wenn in ein paar Jahren Studentinnen zu mir kommen, die sagen: Ich habe mich damals durch diese Plattform gearbeitet, und das hat mich dazu gebracht, Informatik zu studieren.“

Vorheriger ArtikelInterview mit Digital-Evangelist Karl-Heinz Land: „Wir müssen alles neu denken“
Nächster ArtikelWie Unternehmen Lernen lernen
Stefan Reinermann ist Digital Journalist, Online-Marketing-Manager und als Inhaber und Geschäftsführer der Agentur r2medien auch Herausgeber dieses Blogs. Nach einer Ausbildung zum Versicherungskaufmann bei den Westfälischen Provinzial Versicherungen in Münster und einem Studium an der Deutschen Sporthochschule in Köln kam der gebürtige Emsdettener über Stationen in Redaktionen und Agenturen in Köln, Bonn, Leverkusen, Düsseldorf und Osnabrück schließlich zurück nach Münster und gründete hier 2004 die Agentur r2medien. Den Mehrwert von Netzwerken, kollaborativem Arbeiten und dem Teilen von Wissen hat er in den vergangenen Jahren in zahlreichen Projekten zu schätzen gelernt. Das war in erster Linie sein Antrieb zur Realisierung dieses Blogs.

HINTERLASSEN SIE EINE ANTWORT

Please enter your comment!
Please enter your name here