Wie Unternehmen Lernen lernen

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Eigentlich wäre digitale Weiterbildung ganz einfach. Inhalte findet man kostenlos im Netz. Doch viele Menschen schaffen es nicht, sich dauerhaft zu motivieren. Vier Gründer aus Münster haben eine Lösung.

Marius Vennemann liest sehr gerne, am liebsten Sachbücher, nicht nur aus seinem eigenen Fachgebiet, der Wirtschaft, er interessiert sich für vieles. Doch im Laufe der Zeit stellte er fest, dass von den Büchern zu wenig hängenbleibt, wenn man sie Kapitel für Kapitel einatmet und danach wieder zur Seite legt. Nach dem Lesen stellt sich das beruhigende Gefühl ein, im Groben schon alles verstanden zu haben. Und das hält sich auch noch eine Weile – allerdings nur so lange, bis man das Wissen auf die Probe stellt.

„Ich habe mich immer wieder dabei erwischt, dass ich von dem, was ich gelesen hatte, nur wenig selbst erklären konnte.“

Inzwischen weiß Marius Vennemann, dass er anders vorgehen muss. Egal, wo er sich beim Lesen befindet, in der Bahn, in seinem Büro oder am Wochenende auf dem Sofa zu Hause, nach jedem Kapitel ruft er sich kurz in Erinnerung, was auf den letzten Seiten stand, ob er es verstanden hat und ob er es auch wiedergeben kann. „Active Recall“ heißt diese Technik. Zwischendurch zwingt man das Gehirn, den bequemen Aufnahmemodus zu verlassen, selbst aktiv zu werden und Wissen abzurufen. „Das ist nur eine Kleinigkeit, aber das verbessert den Lernprozess dramatisch“, sagt Marius Vennemann.

Von diesen Kleinigkeiten gibt es viele. Wenn Lernende sie nicht beachten, kann das dazu führen, dass sie viel Zeit investieren, aber nichts lernen. Andere Hemmnisse verhindern, dass Menschen mit dem Lernen überhaupt erst anfangen. In Organisationen kann falsches oder nicht stattfindendes Lernen zu einem strukturellen Problem werden. Und in einer Zeit, in der die digitale Transformation vieles verändert, kann das auf Dauer die Existenz von ganzen Unternehmen bedrohen.

Unternehmen fehlt die Strategie

In Münster am Hafen, im „Digital Hub“ des Vereins „münsterLAND.digital“, einer Art Brutkasten für digitale Unternehmen, arbeiten vier junge Gründer mit ihrem fünfköpfigen Team an Lösungen für derartige Probleme.

Marius Vennemann ist einer von ihnen. Er beschäftigt sich schon lange mit der digitalen Transformation und der Vermittlung von Wissen. Früher hat er Nachhilfe gegeben. Während seines BWL-Studiums gründete er vor zwei Jahren zusammen mit seinem Studienfreund David Middelbeck die Non-Profit-Plattform TechLabs. Sie hilft Auszubildenden und Studierenden dabei, Programmieren zu lernen und sich digitales Wissen anzueignen. Vor einem Jahr gewannen die beiden einen mit 20.000 Euro dotierten Google-Förderpreis. Inzwischen arbeiten mehr als 70 freiwillige Helfer in drei europäischen Ländern für die Organisation.

Anfang des Jahres machte Vennemann die Wissensvermittlung zu seinem Hauptberuf. Er kündigte bei der Unternehmensberatung McKinsey und tat sich mit seinem TechLabs-Partner David Middelbeck sowie zwei weiteren Studienfreunden zusammen – den Wirtschaftsinformatikern Jan Papenbrock und Jannik Weichert. Im Mai gründeten sie zusammen das Start-up edyoucated, dessen Geschäftsinhalt die Gründer auf ihrer Website mit sieben Worten zusammenfassen:

„The new way of building digital talent.“

Das edyoucated-Team von links nach rechts: Jannik Weichert, David Middelbeck, Jan Sebastian Papenbrock und Marius Vennemann.
Das edyoucated-Team von links nach rechts: Jannik Weichert, David Middelbeck, Jan Papenbrock und Marius Vennemann.

Ein großer Teil der Unternehmen, auch der kleineren, hat inzwischen verstanden, dass sich das Thema digitale Bildung nicht einfach ignorieren lässt. Nach einer Studie des Digitalverbands Bitkom in Zusammenarbeit mit dem TÜV, die im November 2018 erschienen ist, bieten fast zwei Drittel aller Unternehmen ihren Mitarbeitern inzwischen Fortbildungen zu digitalen Themen an. Das ist eine enorme Steigerung im Vergleich zu den Jahren davor. Aber noch immer haben drei Viertel aller Firmen kein festes Budget für digitale Weiterbildung. Und über die Hälfte verfolgt bei der Vermittlung von Digitalkompetenzen keine Strategie.

Nur fünf Prozent bleiben dabei

Fragt man Marius Vennemann, ist fehlende Strategie eines der größten Probleme. Kostenloses Lernmaterial gibt es im Netz zuhauf. Im Grunde könnte man einfach eine E-Mail mit Links an Mitarbeiter schicken und die Bitte anfügen, sich mit dem Material vertraut zu machen. Doch so einfach ist es nicht.

Sogar bei konzipierten Online-Kursen ist die Rate der Nutzer, die bis zum Ende dabei bleiben, gering. Sie liege bei maximal fünf Prozent, sagt Marius Vennemann. Woran das liegt? „Das Video ist für alle gleich, und es gibt nichts, was die Lernenden führt“, sagt Vennemann. Man nutze zwar die neuen technischen Möglichkeiten, aber die Lernkonzepte seien weiter die alten.

Vor zwei Jahren war diese Feststellung der Ausgangspunkt, um die Frage zu beantworten, was sich im Lernprozess ändern muss, damit weniger Lerner verloren gehen. Die Antwort, die das edyoucated-Team fand, besteht im Wesentlichen aus zwei Punkten: Personalisierung und Kollaboration.

Personalisierung bedeutet: Es ist wichtig, den Lernstoff so auf die Teilnehmenden zuzuschneiden, dass sie sich weder langweilen noch überfordert sind. Um ihren Kenntnisstand zu erheben, nutzt edyoucated verschiedene Methoden: Selbsttests, Quiz-Elemente oder Befragungen von Teilnehmern.

Kollaboration heißt: Der Lernerfolg ist größer, wenn Menschen gemeinsam lernen. Dabei spielt wieder die Einsicht eine Rolle, zu der Marius Vennemann irgendwann kam. Wenn man Wissen nicht nur aufnimmt, sondern zwischendurch auch abruft, lässt es sich sehr viel besser verankern. „Wenn ich etwas Gelerntes jemandem erkläre, reflektiere ich, was ich gelernt habe, und so verfestigt sich auch das, was ich weiß“, sagt Vennemann.

Die Leute sind nicht allein

Gemeinsames Lernen hat zudem einen Nebeneffekt. Es verbessert nicht nur den Erfolg, sondern auch die Bereitschaft. „Wenn mein Sitznachbar lernt und sich darauf verlässt, dass ich das auch tue, habe ich eine stärkere Motivation, mich hinzusetzen und anzufangen“, sagt Vennemann. Aber wie genau funktioniert das in der Praxis?

„Im Kern sind wir ein Software-Unternehmen. Das heißt, einen Großteil der Materialien stellen wir digital zur Verfügung.“

Theoretisch lassen sich die Inhalte auch digital vermitteln. Das hat durchaus Vorteile. Die Teilnehmer können sich mit dem Lernstoff beschäftigen, wo und wann immer sie wollen. Das Lerntempo bestimmen sie selbst. Aber diese Variante hat auch Nachteile. Über lange Zeiträume kontinuierlich allein vor dem Bildschirm oder dem Display zu sitzen und sich Wissen anzueignen, erfordert viel Selbstdisziplin. Und die hat nicht jeder Mitarbeiter. Der wohl größte Vorteil von Präsenzveranstaltungen aber ist, dass die Teilnehmer sich besser kennenlernen. Und das verbessert die Lernatmosphäre.

Die guten Seiten beider Formen sind kombinierbar. Marius Vennemann spricht von „Blended Learning“. Dabei erarbeiten die Teilnehmer sich einen Teil des Stoffes am Bildschirm, treffen sich aber in regelmäßigen Abständen bei Präsenzveranstaltungen. Wenn es Probleme gibt, stehen Mentoren zur Verfügung, die mit den Inhalten vertraut sind. „Die Leute sind nicht allein, falls es hakt“, sagt Marius Vennemann.

Der kluge Vermittler

Überträgt man das auf den Schulkontext, übernimmt edyoucated dabei nicht die Rolle des Lehrers, sondern eher die eines Vermittlers. „Wir sind der schlaue Teaching-Assistent, der die Schüler kennt, der weiß, wie weit jeder einzelne ist, und der nicht nur mit den Schülern spricht, sondern auch mit den Lehrern, um ihnen ein Feedback zu geben“, sagt Marius Vennemann.

Das erklärt auch das auf den ersten Blick etwas überraschende Detail, dass edyoucated kein eigenes Lehrmaterial nutzt, sondern vor allem Inhalte, die im Netz frei verfügbar sind: Blog-Artikel, Podcast-Folgen oder Youtube-Videos. Teilweise empfiehlt das Start-up auch kostenpflichtiges Material.

Theoretisch könnte man sich das alles auch selbst zusammenstellen. Allerdings wäre das ein bisschen so, als wollte man eine Rundreise durch eine fremde Stadt planen, die ohne größere Umwege zu allen Sehenswürdigkeiten führt, hätte aber weder einen Stadtplan noch einen Reiseführer.

digitale Weiterbildung

Genau dieses Wissen bietet edyoucated. Das Unternehmen entwirft eine Route durch ein Wissensgebiet, die alles zeigt, was wichtig ist, an Hindernissen vorbeiführt, aber auf Um- oder Irrwege verzichtet. Damit löst das Start-up ein Problem, das vielen Unternehmen vertraut ist. „Die Angebote sind oft da, nur die Mitarbeiter nutzen sie nicht“, sagt Marius Vennemann. So ist es auch im Netz. Inhalte sind im Überfluss vorhanden. Oft fehlt nur jemand, der Orientierung gibt.

Es beginnt schon mit der Frage, welche Fähigkeiten für die Mitarbeiter überhaupt relevant sind. Marius Vennemann spricht von einer „T-förmigen Organisation des digitalen Wissens“. Die Grundlage besteht aus Basiswissen. Dabei geht es um Themen wie Datenorganisation, agile Methoden, digitale Geschäftsmodelle oder Produktmanagement. Das sind Gebiete, die Mitarbeiter in Umrissen verstanden haben müssen, um zu wissen, was im Unternehmen überhaupt gemacht wird, welchen Inhalt Aufgaben haben, und welche Aufgaben wichtig sind. Das Expertenwissen ragt aus diesem Fundament wie eine Wurzel heraus, es geht in die Tiefe.

„Wenn ich ein datengetriebenes Geschäftsmodell habe, reicht es nicht aus, die Grundlagen der digitalen Bildung verstanden zu haben“, sagt Marius Vennemann. Hier brauchen Mitarbeiter Wissen, das in die Tiefe geht, bis hin zu der Fähigkeit, selbst Algorithmen zu entwickeln und komplexe Datenmethoden anwenden zu können.

In kurzer Zeit lässt sich viel erreichen

Mitunter passiert es, dass in Unternehmen noch niemand weiß, was mit den vorhandenen Daten alles möglich wird. Oder Firmen sind technisch hervorragend ausgestattet, aber Mitarbeiter nutzen die Technik nicht, weil sie ihren Sinn nicht verstehen.

Auch in solchen Fällen kann es um Kleinigkeiten gehen. Möglicherweise liegt die dicke Software-Dokumentation ungelesen in einem Aktenschrank oder in digitaler Form auf der Festplatte. Das Wissen wäre vorhanden, aber es müsste in die Köpfe gelangen, und es fehlt die Verbindung zu der Erkenntnis, dass eine Software-Schulung das Problem lösen könnte. „Wir sehen sehr oft, dass das Thema digitale Weiterbildung noch nicht in den Alltag integriert ist“, sagt Marius Vennemann.

Dabei überrascht es ihn manchmal selbst, wie viel sich in kurzer Zeit erreichen lässt. Neulich hatte er es mit einem Programmierkurs zu tun. Die Teilnehmer verfügten über geringe Vorkenntnisse. Vier Monate später hatten sie eine Applikation programmiert, die in der Lage war, mithilfe von künstlicher Intelligenz auf Röntgen-Bildern das Knochenalter zu untersuchen – mit einer ähnlich guten Erfolgsquote wie ein Arzt. „Als Außenstehender denkt man, das ist gar nicht möglich“, sagt Marius Vennemann. Aber man dürfe nicht unterschätzen, was Menschen in kurzer Zeit lernen können. Natürlich, von selbst geht das nicht. Man muss es schon richtig anstellen. Fünf bis zehn Stunden pro Woche sollte man investieren. Aber dann stellt sich irgendwann der Erfolg ein – wenn man auf ein paar Kleinigkeiten achtet.

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